Schulze kam kopfschüttelnd den langen Flur des neuen Bürokomplexes entlang gehastet. Was bildete sich dieser Pacholke eigentlich ein? Nur weil er Werkleiter war, gab es noch lang keinen Grund, ihn vor versammelter Mannschaft so herunterzuputzen. Und überhaupt, aus welch niederen Beweggründen heraus?
Sie hatten über die Auditabweichungen in der Produktion sowie die Qualitätslage im Allgemeinen gesprochen und Schulze hatte zugegebenermaßen, leicht von oben herab dozierend, auf die Risiken und Unwägbarkeiten in den anstehenden Kundenaudits sowie die verschenkten Verbesserungspotentiale hingewiesen, da platzte es aus Pacholke heraus. „Mein lieber Schulze” giftete er, „Ich schätze Ihr Engagement wirklich sehr. Vor allem, wenn es außerhalb unserer Firma stattfindet!” Das hatte weh getan, und Schulze sah sich verunsichert im Kreise der versammelten Führungsriege um. „Sie breiten sich mit ihrem ISO- und Reglementierungswahn wie ein Krake im Unternehmen aus und ersticken jegliche Innovationslust im Keim! Sehen Sie endlich zu, dass ihr bürokratischer Qualitätswahn ein Ende hat und schaffen Sie pragmatische und vor allem agile, zeitgemäße Lösungen heran!”
Damit deutete er Schulze den Weg zur Tür und signalisierte, dass er an einer Fortführung des Disputs keinerlei Interesse verspürte. Schulzes Führungskollegen begleiteten ihn mit versteinerten Mienen nach draußen und frohlockten insgeheim, dass sie dem nervigen Dauer-Querulanten Schulze mal so richtig eine verpassen konnten.
Warum verwechselte man in der Tunicht&Gut GmbH ein wirksames Qualitätsmanagementsystem mit blindem ISO-Konformismus? Warum wurde das inhaltlich sinnvolle Rahmenwerk der ISO 9001 immer gleich als Innovations- und Kreativitätskiller verurteilt? Warum glaubten all die Innovationshungrigen und Agilitätsjünger, dass man zunächst sämtliche stabilisierenden Rahmenwerke und Ordnungssysteme über Bord werfen müsse, um endlich erfolgreich sein zu können?
Schulze dachte über das vorherrschende Bildungs- und Erziehungssystem nach, das dem Großteil der Bevölkerung bereits in jungen Jahren diesen blinden Regelkonformismus und die zugehörigen absurden Belohnungssysteme einhämmerte. Waren nicht auch die gemachten Erfahrungen an Schulen und Universitäten mitverantwortlich dafür, dass die meisten Menschen dem Vier-bleibt-Hier-Syndrom verfallen waren, d.h. nur noch die vorgegeben Bewertungsmaßstäbe bedienten und dabei vergaßen, ihr eigenes Hirn zu verwenden und an ihren individuellen Begabungen und Möglichkeiten zu arbeiten? Wie hilfreich wäre es, einfach mal den gesunden Menschenverstand walten zu lassen und in Eigenverantwortung und mit Augenmaß den Interpretationsspielraum von Regelwerken wie der ISO 9001 aktiv zu nutzen und zu gestalten?
Und genau das war im Unternehmen so bitter notwendig, wenn man so etwas wie Business Excellence erreichen wollte und vor allem auf den Märkten als „unique” gelten wollte.
Schulze war zutiefst davon überzeugt, dass es für gutes und wirksames QM keine 0815-Erfolgsrezepte geben konnte, die man Schritt für Schritt imitieren und sogleich die Logenplätze des Forbes Rankings erobern konnte.
Es waren vielmehr Grundprinzipien, eben solche, wie jener Qualitätspionier W.E. Deming bereits in den 50er Jahren aufgestellt hatte, die etwas mit Mindset, mit innerer Haltung und gelebter Qualitätskultur zu tun hatten. Sie allein waren das Geheimnis für herausragende Leistungen, Exzellenz und dauerhaften Erfolg.
Schulze hatte sich seine hochwertige Espressotasse aus dem Regal genommen, sich an seiner edlen italienischen Siebträgermaschine bedient und genoss nun halb liegend das frische Aroma des vollmundigen Arabicas. Er schloss die Augen und erinnerte sich mit einem Mal an seinen letzten Urlaub in Süditalien, wo ein sizilianischer Barista mit außergewöhnlicher Kunstfertigkeit und Hingabe Espressi im Minutentakt zubereitete, die den Gästen ein unvergleichliches Gaumenerlebnis und ihm selbst einen vollen und angesagten Laden bescherten.
So musste es sein, sich ganz dem Augenblick hingeben und Qualität bewusst mit allen Sinnen genießen, exzellent!
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