Pacholke hatte es tatsächlich getan.
Er war der fragwürdigen Einladung eines windigen Geschäftspartners gefolgt und hatte sich kurzerhand zum WM-Finale in die brandneue, katarische Metropole Lusail City einladen lassen.
Schulze saß in seinem düsteren Büro und sinnierte darüber, ob er sich über den allzu offensichtlichen Compliance-Verstoß seines Vorgesetzten ärgern oder über die einwöchige Ruhe vor dem Sklaventreiber freuen sollte. Klar, er als ehemaliger Kreisliga-Veteran wäre natürlich auch er gerne live beim Finale vor Ort gewesen, auf der anderen Seite hatte diese WM bereits im Vorfeld aufgrund der sonderbaren Randbedingungen selbst für Hardcore Fans jeglichen Glanz verloren.
„Warum eigentlich?“ fragte sich Schulze gedankenverloren und was hatte dieses Phänomen mit seiner Zunft, dem Qualitätsmanagement zu tun?
Unbestritten war sicherlich, dass die katarische Regierung ein kritikwürdiges Menschenbild besaß. Unbestritten war aber doch auch, dass der Westen bei sämtlichen ethisch und moralischen Fragen die globale Deutungshoheit beanspruchte und eine atemberaubende Inkonsequenz im eigenen Handeln an den Tag legte.
Schulze dachte an die vollkommen überstrapazierte Regenbogensymbolik zu Gunsten der Vielfalt, Gleichheit und Menschenrechte und gegen jegliche Form von Diskriminierung.
Wenn das Gastgeberland Katar doch so drastisch dagegen verstieß, warum hatte der DFB die WM nicht von vorne herein boykottiert?
Und was war noch gleich mit den devoten Gesuchen unseres Wirtschaftsministers bei der katarischen Regierung, um an das begehrte Flüssiggas zu gelangen? Wenn es um den Heizkessel daheim ging, waren die Menschenrechte dann doch eher wieder sekundär und eine Armbinde in Regenbogenfarben hatte man bei der Emir-Audienz an Habecks Arm vergeblich gesucht.
Und wie stand es mit den Rechten von Minderheiten in Russland, Brasilien oder Südafrika? Hatte bei diesen WM-Festivals in den Jahren 2018, 2014 oder 2010 irgendjemand mit der Regenbogenflagge gewedelt?
Es war zum Erbarmen, wie sich der Westen zum Moralapostel der Völkergemeinschaft gerierte. Und überhaupt, wie war es um die Gleichberechtigung und Diskriminierung von Minderheiten in diesem Lande bestellt? Glaubte man hier allen Ernstes, dass gelegentliche Paraden, Demos und Symbolgesten tiefgreifende Parität erzeugte?
Schulze schüttelte sich angewidert und dachte, dass genau diese Inkonsequenz und Fingerpointing-Mentalität auch seiner Zunft immer wieder vorgehalten wurde.
Niemand ließ sich gerne von inkonsistent denkenden und handelnden QM-Gurus belehren. Es war ein schmaler Grat zwischen gut gemeinten Impulsen zur eigenständigen Verbesserung und plumper Rechthaberei und selbst erteilter Deutungshoheit. Eine Herausforderung, der sich alle Qualitäter immer wieder stellen mussten und derer man sich stets bewusst sein musste, wollte man in punkto Organisationsentwicklung erfolgreich sein.
„In diesem Sinne sollte ich dann wohl auch Pacholkes Reise zum WM-Finale nochmals reflektieren“ seufzte Schulze und machte sich auf den Heimweg, um den Anpfiff des Finals bei Chips und Dosenbier auf der heimischen Couch ja nicht zu verpassen.
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